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Quelle: Peta2.de

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Warum empfindet unsere Gesellschaft die Körperteile (sprich Fleisch) und Ausscheidungen (sprich Eier und Milch) von bestimmten Tierarten als schmackhaft und von anderen als ekelerregend?

Die amerikanische Sozialpsychologin Prof. Dr. Melanie Joy erforscht die „Psychologie des Fleisch Essens“ und hat sich mit der Frage beschäftigt, warum wir manche Tiere als Freunde und Familienmitglieder behandeln und andere Tiere ausschließlich als Nahrungsmittel wahrnehmen. Melanie Joy schloss aus diesem Widerspruch in unserer Wahrnehmung und Behandlung von Tieren folgendes:

Unsere Kultur legt fest, welche (wenige) Tierarten wir als essbar kategorisieren und welche nicht. Aufgrund der gesellschaftlichen Norm empfinden wir bei der Vorstellung ein Tier zu essen, welches unsere Kultur als nicht essbar klassifiziert, eine starke emotionale Reaktion (Ekel, Schock, Mitgefühl), da wir das Fleisch (ob köstlich oder nicht) mit einem toten Tier bewusst in Verbindung bringen. Diese bewusste Verbindung zwischen Fleisch und totem Tier fehlt uns bei allen anderen als essbar wahrgenommenen Tierarten. Melanie Joy bringt dieses psychologische Phänomen exakt auf den Punkt: Auf der einen Seite leben wir mit unseren Haustieren eine enge emotionale Verbindung und gleichzeitig verspeisen wir z.B. ein Schnitzel von einem Schwein, welches ebenso empfindungs- und bewusstseinsfähig ist wie unser Haustier. Höchstwahrscheinlich ist das Schwein sogar noch intelligenter. Auffällig und hoch interessant für die Sozialpsychologin ist die Frage, warum die Mehrheit in unserer Gesellschaft bei Körperteilen von Rindern, Schweinen und Hühner ausschließlich an Nahrungsmittel und „Fleisch“ denkt und keinerlei bewusste Verbindung zu dem einmal lebendigen Tier herstellen, von dem diesem Produkt (sprich Körperteil) stammt.

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„Ohne Bewusstsein, gibt es keine freie Entscheidung“ (Melanie Joy)

Die Lücke in unserem Bewusstsein (Fleisch = totes Tier) verzerrt die Realität von „Fleisch“ und blockiert unsere authentischen Gedanken und Empfindungen zu Körperteilen von toten Tieren, so Melanie Joy. Veganer haben diese Lücke oft unbeabsichtigt geschlossen und stellen die emotionale Verbindung zwischen den „Nahrungsprodukten“ und den Körperteilen und Ausscheidungen von Tieren her. Die Mehrheit in unserer Gesellschaft ist sich jedoch über die Realität des „Fleisches“ und ihre Gedanken und Gefühlen nicht bewusst, wenn sie Körperteile und Ausscheidungen von Tieren konsumieren. Daher ist ihnen auch nicht bewusst, dass sie eine Wahl haben. Die Lücke in ihrem Bewusstsein raubt ihnen die Fähigkeit eine freie Entscheidung zu treffen, jedes Mal, wenn sie tierische „Produkte“ zu sich nehmen.

Das psychologische Phänomen der Bewusstseinslücke ist in einem globalen Überzeugungssystem begründet: Melanie Joy prägt hierfür den Begriff Karnismus („carn“ = „Fleisch“ oder „aus Fleisch“; „ismus“ = Überzeugungssystem). Karnismus ist das Gegenteil von Veganismus. Dennoch sind auch Veganer und Vegetarier Teil des karnistischen Systems, welches unsere Kultur, unseren Globus dominiert. Im Gegenteil zu Veganismus ist das karnistische Überzeugungssystem nicht sichtbar und es ist uns nicht bewusst. Melanie Joy beschreibt Karnismus als eine dominante, fest verwurzelte Ideologie, welche Einstellungen, Verhalten, Normen und Gesetze formt. Karnismus ist eine gewalttätige Ideologie, sie organisiert sich um Gewalt – denn für „Fleisch“ muss das Tier getötet werden.

„Alle dominanten, gewalttätigen Ideologien nutzen eine Reihe sozialer und psychologischer Verteidigungsmechanismen, der es humanen Menschen ermöglicht, an inhumanen Praktiken teilzunehmen, ohne vollständig zu realisieren, was sie tun.“ (Melanie Joy)

Die Unsichtbarkeit des Systems ermöglicht es zu verleugnen. Wenn das Problem geleugnet wird, muss man sich als Mensch (Gesellschaft) erst gar nicht damit befassen. Ein unsichtbares System hält seine Opfer aus der Öffentlichkeit fern und somit auch aus dem öffentlichen Bewusstsein. In Deutschland kommen 98% aller Körperteile und Ausscheidungen von den 900 Millionen Tieren aus Massentierhaltung. Wie viele Tiere aus Massentierhaltungen haben wir bisher in unserem Leben gesehen? Wo sind sie? Melanie Joy beschreibt den Karnismus als ein System von Viktimisierung: Neben den Milliarden von Opfern in der Tierindustrie, fallen die Arbeiter in der „Fleischverarbeitenden“ Industrie (Posttraumatischer Stress, Verletzungen), Konsumenten von tierischen „Produkten“ (Gesundheitsschädigungen), die Umwelt (Umweltzerstörung) und andere Menschen (Welthunger) dem karnistischen System zum Opfer.

Die 3 großen Ns: Fleisch essen ist normal, natürlich und notwendig.

Durch die Milliarden von unschuldigen Opfern, durch die Existenz von Vegetariern und Veganern und nicht zuletzt durch die Inkonsistenz unserer Werte ist der Karnismus jedoch ein in sich fragiles System und benötigt daher Verteidigungsmechanismen. Karnismus lehrt uns, dass Mythen des Fleisches, Fakten des Fleisches sind, so Melanie Joy. Die drei Ns kommen uns sicherlich allen sehr bekannt vor: Fleisch essen ist normal, natürlich und notwendig (vgl. „Sklavenhaltung ist…?“, „Männliche Dominanz ist…?“, „Heterosexuelle Überlegenheit ist…?“). Melanie Joy enttarnt diese Rechtfertigungen als Mythen: Normalität. Die Überzeugungen und das Verhalten einer dominanten Kultur sind immer normal. Die dominante Ideologie generiert kulturelle und soziale Normen. Natürlichkeit. Die dominante Kultur interpretiert unsere Geschichte und findet somit ihre Rechtfertigungen. Vegetarischen Vorfahren in unserer Menschheitsentwicklung werden schlichtweg verleugnet. Notwendigkeit. Veganer und Vegetarier sterben nicht an einem frühzeitigen Tod. Dafür werden global 56 Milliarden Tiere jedes Jahr getötet. Was ist notwendig, um eine dominante Kultur zu erhalten?

Die Mythen des Karnismus ziehen sich durch alle gesellschaftlichen Institutionen (Staat, Wissenschaft, pädagogische Institutionen, Gesundheitswesen, Familie). Wir alle, ob Veganer, Vegetarier oder Karnisten, wurden unser Leben lang konditioniert die Welt durch die karnistische Brille zu sehen. Wir wurden in ein dominantes System geboren und haben dessen Rechtfertigungen internalisiert (verinnerlicht), glauben an diese (auch wir Veganer noch allzu oft) und die Mehrheit lebt auch danach. Der Karnismus lehrt uns als Gesellschaft, unser Denken und Fühlen zu betäuben und verzerrt unsere Wahrnehmung von Körperteilen (=Fleisch) und Ausscheidungen (=Milch, Eier) von Tieren, damit wir uns nicht unwohl dabei fühlen müssen, wenn wir Tiere essen. Unsere Gesellschaft macht Tiere zu Objekten (ein Ding anstatt Lebewesen), zu Abstraktionen (Nummer statt Name, Gewichtsangabe statt Anzahl) und zu Kategorien (essbar vs. nicht-essbar). Die Mentalität aller dominanten und unterdrückenden Systeme (vgl. Rassismus, Sexismus, Faschismus, Fanatismus) sind gleich, so Melanie Joy. Daher ist für sie Tiere essen eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Joy sieht in der veganen Bewegung eine Weiterführung bisheriger sozialer Bewegungen wie die Schwarzenbewegung in Amerika oder die Frauen- und die Schwulenbewegung international. Wie von Mitgliedern anderer sozialen Bewegungen wird auch oftmals von Veganern (un)bewusst gefordert, ihre Bedürfnisse zurückstellen, um die Privilegien der Mehrheit nicht zu gefährden oder als extrem, fehlerhaft, voreingenommen und überemotional wahrgenommen, wenn sie die extremen Praktiken der apathischen und betäubten Mehrheit erkennen und thematisieren.

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Quelle: Peta2.de

Yes, we care!

Die vegane Bewegung wächst international exponentiell. Auch Melanie Joy gibt uns in ihren Ausführung zum Karnismus Grund zur Hoffnung: Warum nutzt unsere Gesellschaft karnistische Verteidigungsmechanismen? Warum sind wir Opfer kognitiver Verzerrungen? Warum verleugnet unsere Kultur die systematische Folter und Ausbeutung von Tieren und warum rechtfertigt sie Tiere zu essen? Der Grund ist, dass wir Menschen eine emotionale Bindung mit Tieren haben: Wir sorgen uns um sie. Daher ist es auch so schmerzhaft der Realität ins Auge zu schauen. Für uns alle, Veganer wie Nicht-Veganer

„Wir alle sind Teil des Systems, unsere Entscheidung ist nicht, ob wir teilnehmen wollen, sondern wie wir teilnehmen“ (Melanie Joy).

Für mich persönlich ist es eine Wohltat, das namenlose Überzeugungssystem in unserer Kultur zu erkennen und zu verstehen. In der Auseinandersetzung mit meiner nicht-veganen Umwelt geht es um ein gewaltbereites, unterdrückendes System, dass uns alle manipuliert, uns die freie Entscheidung raubt und das will keiner. Wir sitzen alle in einem Boot. Unsere Gesellschaft ist gegen Gewalt an Tieren und gegen Tierquälerei. Wir alle wachsen mit Tierbüchern auf, wir alle haben, auch wenn wir betäubt und abgestumpft sind, zumindest in unserer Kindheit schöne Erinnerungen an Tiere. Sie waren unsere Geschichtenerzähler und unsere Helden. Die ältere Generation unter uns liest ihren Enkelkindern Tiergeschichten vor. Wir alle haben eine natürliche Verbindung zu Tieren. Beim Tiere essen geht nicht um die persönliche ethische Entscheidung. Es geht um eine Ideologie, welche unsere Gesellschaft verteidigt ohne sich darüber bewusst zu sein. Wenn wir das Überzeugungsystem und die Verteidigungsmechanismen des Karnismus erkennen, können wir uns mit Nicht-Veganern auf einer anderen – gemeinsam betroffenen – Ebene treffen, auf der keine Fronten mehr nötig sind.

„Wir sollten anfangen uns mit dem Problem – Karnismus – auseinander zu setzen und nicht mit der Lösung, dem Veganismus“ (Melanie Joy).

Übrigens: Der Compassion Media Verlag hat ein Crowdfunding-Projekt gestartet, um Melanie Joy zu einer Lesereise nach Deutschland zu holen. Hier könnt ihr das Projekt unterstützen. Melanie Joys Buch „Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen“ (engl: Why we love dogs, eat pigs and wear cows) kommt im Mai auf deutsch raus.

Wer schreibt denn hier?

tamaraSeifeTamara Pfeiler ist Psychologin, lebt und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Mainz. Nach beinahe zehn überwiegend vegetarischen Jahren (aber Curry-Wurst, Fischbrötchen und Co schmeckten doch so gut), versuchte sie 2012 einen veganen Probemonat. Und blieb dabei. Die Wahrnehmung ihrer Umwelt veränderte sich drastisch. Es dauerte mehrere Wochen pflanzlicher Ernährung, bis sie den Mut hatte erstmals Tierhaltungs- und Schlachtfilm zu sehen. Das traf sie so tief, dass sie mehr über die Verdrängungsmechanismen in unserer Gesellschaft wissen wollte. Seitdem beschäftigt sie sich intensiv mit der Psychologie des Tiere Essens, der karnistischen Ideologie und der Industrie Tiere essen. Momentan arbeitet sie an einem eigenen Blog (www.mundvolltier.de) der bald fertig sein wird.

 

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